Aus Goethes Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (1795/96) greift Retzsch eine Schlüsselszene heraus: Mignon singt für Wilhelm das Lied »Kennst du das Land, wo die Citronen blühn« (III, 1; WA I, 21, S. 233ff .). In einer dämmrigen Stube kauert Mignon am Boden und lehnt sich in sehnsüchtiger Hingabe an Wilhelm, der mit übereinandergeschlagenen Beinen hinter ihr sitzt und aufmerksam lauscht. Statt der Zither, die Goethe im Text nennt, hält Mignon[NZ]eine Mandoline im Arm. Mit diesem Wechsel des Instruments schließt er sich an die Mignon-Darstellungen von Johann Gottfried Schadow (Marianne Schlegel als Mignon, Kreidezeichnung, 1802; Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett) und Wilhelm von Schadow (Mignon, zwei Ölgemälde von 1828; Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg sowie Museum der Bildenden Künste Leipzig) an. Reich nuancierte Brauntöne tauchen die Szene in ein stimmungsvolles Halbdunkel; das Interieur bleibt schemenhaft, nur Mignon und das Gesicht Wilhelm Meisters werden durch die Lichtführung hervorgehoben. So versucht Retzsch , die tiefe emotionale Beziehung zwischen den beiden Figuren auszuloten und in eine »romantisch eindringliche Bildformel« (Vogel 2008) zu fassen. Analog zum Text zeigt er Mignon in kindhaft uneindeutiger Gestalt und in Knabenkleidern: »Sie brachte graues Tuch und erklärte nach ihrer Art, daß sie ein neues Westchen und Schiff erhosen, wie solche an den Knaben in der Stadt gesehen, mit blauen Aufschlägen und Bändern haben wollte« (II, 9; WA I, 21, S. 185). (Quelle: Maisak/Kölsch: Gemäldekatalog (2011), S. 226-227)
Illustrierte Textstelle: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 3. Buch, 1. Kapitel